Kernspin-Untersuchungen gelten in der Medizin als Nonplusultra, wenn es gilt, hinter die Ursachen von Gelenk-, Rücken- oder Bauchschmerzen zu kommen. Dabei lassen sie den Patienten oft kränker aussehen, als er tatsächlich ist. Von Michael Brendler Vor zehn Jahren hatte der Rheumatologe David Felson einen Verdacht, mit dem er sich nicht viele Freunde machte. Immer wieder hatte er in seiner Bostoner Klinik Menschen erlebt, die nach einer Operation zu ihm kamen. Das Muster war stets dasselbe: Mit schmerzenden und verschlissenen Kniegelenken waren sie zu einem Orthopäden gegangen. Der hatte sie zur Diagnose erst einmal in den Magnetresonanz-Tomographen (MRT) geschoben. Auf den Bildern war anschließend nicht nur der typisch abgeschliffene Gelenkknorpel eines arthrotischen Kniegelenks aufgefallen, sondern auch ein kaputter Meniskus.
Als eine Art Stoßdämpfer führen jeweils zwei dieser halbmondförmigen Knorpelwülste die Bewegung im Knie. Einmal gerissen, können sie unangenehme Schmerzen verursachen. Felsons Patienten war daher regelmäßig der Meniskus mindestens teilweise entfernt worden. Der Schmerz war dennoch geblieben. Vielleicht, weil der Meniskus nie die Ursache der Beschwerden gewesen war? Sondern nur die ganz normale Begleiterscheinung eines abgenutzten und ohnehin schon schmerzhaften Kniegelenks?Um diesen Verdacht zu überprüfen, lud Felson 991 Menschen zwischen 50 und 90 Jahren ein, sich in einen Kernspintomographen zu legen. Es war ein bunt gemischter Haufen, die einen mit, die anderen ohne Kniebeschwerden. Im Jahr 2008 veröffentlichte der Rheumatologe im New England Journal of Medicine das spektakuläre Ergebnis seiner Studie: „Ein Meniskusriss ist auch bei gesunden Menschen extrem häufig“, fasste der Mediziner zusammen; bei jedem dritten Mann und jeder fünften Frau hatte er einen solchen Riss gefunden. Bei den über 70-Jährigen war es sogar mehr als jeder Zweite. Die erstaunliche Schlussfolgerung lautete: Sind die Kniegelenke ansonsten gesund, bereitet das den meisten Menschen überhaupt keine Probleme – sie merken gar nichts davon. Außer, sie legen sich in einen MRT.Genau das aber erleben heutzutage immer mehr Menschen. Seit der amerikanische Chemiker Paul Lauterbur Anfang der 1970er Jahre auf die Idee kam, durch die magnetische Anregung von Wasserstoffkernen im Körper dreidimensionale Bilder zu erzeugen, hat die Kernspintomographie in der Medizin eine steile Karriere gemacht. Rund 11 Millionen Aufnahmen wurden nach Angaben des Wissenschaftlichen Instituts der AOK im Jahr 2014 in deutschen Kliniken und Praxen gemacht. Dazu kamen noch einmal geschätzte 1,1 Millionen Kernspintomographie-Untersuchungen von Privatpatienten in den Praxen niedergelassener Radiologen. Seit 2011 ist damit die Zahl der Aufnahmen um mehr als zwanzig Prozent gestiegen. Besonders beliebt sind Rücken, Schulter, Gehirn und eben die Kniegelenke.Eigentlich ist das eine Erfolgsgeschichte. Während auf Röntgenbildern meist nur härtere Körperstrukturen wie Knochen gut zu erkennen sind, ermöglicht ein MRT-Bild auch einen Blick auf weichere Teile wie Bänder, Knorpel, Muskeln und Details des Gehirns. Wie viele andere Fachleute bezweifelt Felson allerdings, dass ein Großteil der Kollegen mit den neuen Informationen wirklich etwas anzufangen weiß. Bei der Kernspintomographie, mahnt er, sei es ähnlich wie bei vielen anderen bildgebenden Verfahren: „Plötzlich entdecken die Ärzte neue, bislang unsichtbare Details, die ihnen Sorgen machen.“ Und stellten sich viel zu selten die Frage: „Haben diese Details wirklich etwas mit der Krankheit zu tun? Oder handelt es sich einfach um eine übliche Alterserscheinung, die dem Patienten überhaupt keine Probleme bereitet?“. Ist das neu entdeckte Detail also womöglich völlig normal?Im MRT, das konnte Felson in einer anderen Studie zeigen, sieht zum Beispiel auch das eigentlich schmerzlose und im Röntgenbild oft noch unauffällige Knie eines durchschnittlichen Fünfzigjährigen plötzlich beängstigend aus. Überall finden sich Knorpelabschabungen, Knochenwucherungen, Knochenmarkschäden. „Deshalb ist es bei der Einführung einer neuen Untersuchungstechnologie so wichtig, zunächst einmal zu wissen, was eigentlich normal ist“, sagt Felson. „Weil ich sonst wahrscheinlich häufig die Falschen behandele.“Auch am Schultergelenk müssen Veränderungen im MRT-Bild noch lange kein Grund sein, sich Sorgen zu machen. Untersuchungen symptomloser Menschen beweisen: Gerade bei Sportlern und älteren Patienten müssen sie eher als Normalbefund gelten. Bei einem sichtbaren Riss in der Rotatorenmanschette beispielsweise, der stabilisierenden Muskel- und Sehnenkappe des Gelenks, lässt sich deshalb häufig nicht sagen, ob es sich nur um einen beschwerdelosen Zufallsbefund oder um die tatsächliche Ursache der Probleme handelt. Am hilfreichsten, schreibt der Orthopäde Michael Bradley im Journal of Shoulder Elbow Surgery, sei ein MRT an der Schulter dann, wenn gerade nichts Besonderes auf ihm zu sehen ist.Die große Stärke des Kernspins, sagt der Radiologe Saurabh Jha von der University of Pennsylvania, sei eben gleichzeitig seine größte Schwäche. Kein anderes Verfahren sei so empfindlich, wenn es darum geht, auch noch die kleinsten anatomischen Veränderungen im Körper aufzuspüren. „Aber je mehr ich entdecke, desto schwieriger wird es auch, die wirklich wichtigen von den unwichtigen Befunden zu unterscheiden.“ Und manchmal, warnt Jha, decke die Untersuchung auch die „kleinen, fiesen Dinge“ auf, „die besser im Verborgenen geblieben wären“.So sind bei MRT-Untersuchungen des Bauchraums kleine, unauffällige Tumoren der Niere ein regelmäßiger Zufallsfund. „Hätte man den Patienten nicht untersucht, würde er von diesen Krebsgeschwüren wahrscheinlich nie etwas mitbekommen“, sagt Jha. Denn in der Regel würden sie viel zu langsam wachsen, um dem Patienten irgendwann Probleme zu bereiten. Durch den Kernspin-Scan einmal vor die Wahl gestellt, einzugreifen oder abzuwarten, entscheide sich die überbesorgte Medizin jedoch leider immer wieder für die erste Variante. Der kleine Tumor wird dann zusammen mit einem Teil der Niere eben herausoperiert. Ähnliches sei auch bei der Bauchspeicheldrüse zu beobachten. Hier handelt es sich bei den MRT-Zufallsfunden meist um kleine Zysten. Und auch deren Entdeckung führt wegen des statistisch kleinen Risikos einer möglichen Krebsentstehung häufig zu einer Operation. Auch dass die Geräte immer besser werden, entschärft das Problem nicht. Im Gegenteil. Moderne, sogenannte Diffusions-Tensor-MRTs sind inzwischen sogar so sensibel, dass sie im Gegensatz zu herkömmlichen Geräten die flüchtigen Spuren einer Gehirnerschütterung sichtbar machen können. Ist das Bild einmal da, werden dem sichtbaren Befund alle möglichen Symptome zugeschrieben: die vorübergehenden Kopfschmerzen, die psychischen Probleme. „Wir Ärzte neigen dann dazu, alles Mögliche mit der Gehirnerschütterung in Zusammenhang zu bringen“, sagt Saurabh Jha. „Unser Verständnis hält mit der neuen Technik nicht Schritt.“Das geht dem Patienten in der Regel nicht anders. „Gerade Menschen mit Rückenproblemen drängen einen manchmal geradezu zu einem Kernspinbild“, berichtet der Orthopäde Martin Klein, der in seiner Freiburger Praxis seit 25 Jahren Patienten behandelt. „Ich habe gehört, das muss man so machen“, heiße es oft. Dabei geht es in den meisten Fällen auch ohne MRT, wie seine Patientin Andrea Stefan erfahren hat. Vor eineinhalb Jahren wachte die sportliche 43-Jährige eines Sonntagmorgens mit Rückenschmerzen und einem Taubheitsgefühl im Unterschenkel auf. Auch den Fuß konnte sie nicht mehr richtig heben. Weil das die typischen Symptome eines Bandscheibenvorfalls sind, hielt es auch der Arzt in der Notaufnahme für besser, einmal genauer nachzuschauen. Martin Klein riet Andrea Stefan trotzdem vom MRT ab. „In einem solchen Fall hilft die Untersuchung weder mir noch dem Patienten weiter“, sagt er. „Denn die Therapie ist in der Regel zunächst immer dieselbe, ganz gleich, was ich auf dem Bild sehe.“ Egal, ob die Bandscheibe wirklich herausgerutscht ist, sich nur ein Stück weit verschoben hat oder ob aufgrund erster Verschleißerscheinungen bloß eine Entzündung auf den irritierten Nerv drückt – stets wird auf dem Rezept von einer „konservativen Therapie mit Bewegungsübungen, Schmerzmitteln und eventuell noch muskelentspannenden Medikamenten“ die Rede sein.Der Radiologe Michael Modic, Leiter des Neurologischen Instituts der Cleveland Clinic in Ohio, hat vor zehn Jahren sogar einmal explizit untersucht, wie es einem Patienten mit akuten Rückenschmerzen oder dem Verdacht auf einen Bandscheibenvorfall bekommt, wenn auf eine Kernspin-Aufnahme verzichtet wird. Er schob insgesamt 246 Betroffene in die Röhre. Bei jedem zweiten Probanden verschwieg er allerdings dem behandelnden Arzt und dem Patienten das Resultat der Untersuchung. Ergebnis: „Wenn es keine besonderen Warnzeichen gibt, die eine sehr schnelle Operation notwendig machen“, so der Experte, „bringt eine bildgebende Untersuchung wie Kernspin- oder Computertomographie bei der Behandlung keinerlei Vorteile.“ Denn in 85 bis 90 Prozent der Fälle verschwinden die Symptome ohnehin wieder ganz von allein.Sechs Wochen nach Studienbeginn hatten sich in beiden Gruppen zwei von drei Patienten gut erholt, Schmerzen und Bewegungseinschränkungen waren deutlich zurückgegangen. Auch eine zweite Kernspin-Aufnahme sah zu diesem Zeitpunkt deutlich besser aus: Bei 35 Prozent der Patienten mit Bandscheibenvorfall war der auf den Nerv drückende Bandscheibenrest auch ohne operativen Eingriff entweder deutlich geschrumpft oder sogar verschwunden. Nach sechs Monaten, das belegen andere Studien, ist dies sogar bei zwei von drei nichtoperierten Patienten der Fall.Abwarten, sagt der Radiologe Jha, sei deshalb nicht nur bei Rückenschmerzen oft der beste Rat, „bevor wir mit einem MRT versuchen, verzweifelt einer Diagnose nachzujagen“. In einer zweiten Studie hat daher auch Michael Modic sich einmal die Mühe gemacht, völlig gesunde, beschwerdefreie Menschen zu untersuchen. Seine Wirbelsäulen-Bilder zeigen, dass jeder vierte bis fünfte Gesunde bereits einen Bandscheibenvorfall hatte, jeder zweite zeigte erste Verschleißerscheinungen. Einem Kernspinbild allein sei deshalb nie zu entnehmen, ob die beobachtete Auffälligkeit tatsächlich auch die Ursache der Schmerzen darstellt.Für den Orthopäden und Unfallchirurgen Klein ist das MRT-Rezept deshalb vor allem „eine Art Joker, den ich ziehen kann, wenn es dem Patienten nach vier bis sechs Wochen trotz konservativer Therapie immer noch nicht besser geht“. Denn ein Kernspin-Bild kann dem Patienten sogar schaden, wie Modic in seiner Studie belegen konnte: Auch wenn es in medizinischer Hinsicht allen Probanden gleich ging, gab es doch einen entscheidenden Unterschied zwischen beiden Patientengruppen. Diejenigen, die über das Ergebnis ihrer MRT-Untersuchung informiert worden waren, zeigten sich unzufriedener und fühlten sich schlechter.“Ein Mensch mit einer zu großen Nase wird auch nicht glücklicher, wenn man überall in seinem Haus Spiegel aufhängt“, sagt der Röntgenarzt. „Manchmal geht es einem eben besser, wenn man bestimmte Dinge gar nicht erst weiß.“
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.05.2016, Nr. 20, S. 59